Reift menschliches Leben im Muterleib heran, dann kann so manches schief laufen. Einer der potenziellen Stolpersteine der Ontogenese ist die Geschlechtsentwicklung. Zwar mag der mit auf den Weg gegebene Chromosomensatz mit einem „XX“ für ein Mädchen und mit einem „XY“ für einen Jungen plädieren. Doch das heißt noch lange nicht, dass der sich entwickelnde Organismus diese Handlungsanweisung auch willfährig umsetzt. Allerdings gibt es für den Fall von Kommunikationsproblemen zwischen Geschlechtschromosomen und den embryonalen Erfolgsorganen auch einen evolutionären Notfallplan. Und der sieht vor, dass sich die Leibesfrucht im Zweifelsfall grundsätzlich zu einem kleinen Mädchen auswächst. Aus diesem biologischen Grund gibt es Menschen, die sich selbst als XY-Frauen oder als intersexuelle Menschen bezeichnen. Doch wie kommt es, dass die Gonosomen „Hü“ sagen, der Körper aber „Hott“ macht? Und mit welchen körperlichen, sozialen und psychologischen Problemen müssen XY-Frauen rechnen?
Kleine Wachstumskunde
Zu Beginn der intrauterinen Menschwerdung ist das erste Aufkeimen der späteren Geschlechtsorgane noch völlig unspezifisch. Etwa so, wie aus einem jungfräulichen Wollknäuel wahlweise ein Paar Handschuhe oder ein Schal gestrickt werden kann. Ob das eine oder andere entsteht, entscheiden beim Embryo üblicherweise die Heterosomen. Denn wenn „XY“ vorliegt, wird Testosteron in Umlauf gebracht, und die Geschlechtsorganentwicklung nimmt einen vermännlichenden Fortgang. Bei „XX“ wird kein Testosteron als Botenstoff produziert, und die „Rohlinge“ wachsen sich zu weiblichen Geschlechtsorganen aus. Was aber, wenn das Testosteron an den Rezeptoren anklopft, und keiner macht auf? Was, wenn das Testosteron als biochemischer Schlüssel einen Defekt hat, und deshalb nicht in das Rezeptorenschloss passt? Was, wenn ein lädiertes Y-Chromosom den Befehl zur Testosteronproduktion gar nicht erteilen kann? Dann wartet der Organismus noch ein Weilchen und entscheidet sich dann in Ermangelung konkreter Anweisungen dafür, alle Signale automatisch auf „Frau“ zu stellen. Und so wird schließlich ein Mensch auf die Welt kommen, der vom Phänotyp her exakt wie eine Frau aussieht, vom Genotyp aus aber ein Mann ist. Oder wenigstens einer hätte werden sollen. Damit nimmt die allgemeine Verwirrung ihren Lauf.
Ist es ein Junge oder ein Mädchen?
Gute Frage. Denn die meisten XY-Frauen durchlaufen für lange Jahre eine absolut unauffällige soziale Geschlechtsentwicklung, überwinden die schwere Zeit der Pubertät wie alle anderen Mitschüler auch, verlieben sich, und gehen ganz normale Partnerbindungen ein. Bis zu dem Tag, an dem ein Frauenarzt auf die Fährte des sich nicht erfüllenden Kinderwunsches gesetzt wird.
Ab jetzt wird es kompliziert. Denn die Diagnose der Intersexualität kann sowohl Betroffenen wie auch Angehörigen einen Schock versetzen. Wenn man sich vor Augen führt, welchen Stellenwert die eindeutig geklärte Frage der Geschlechtszugehörigkeit für unsere Gesellschaft hat – das fängt schon bei der üblichen Anrede „Sehr geehrte Damen und Herren“ an – dann wird schnell klar, wie sehr so eine völlig unerwartete sexuelle Entwurzelung XY-Frauen und ihr Umfeld ins Schleudern bringen kann. Jetzt brauchen die frisch geouteten Intersexuellen Verständnis, Unterstützung und Respekt. Leider lässt es eine intolerante engstirnige Gesellschaft an diesen Grundpfeilern der Menschlichkeit immer wieder schmerzlich mangeln. Darum tun XY-Frauen nebst Freunden grundsätzlich gut daran, sich in seriösen Interessensverbänden zusammenzufinden. Denn auch hier gilt: Einigkeit stärkt.
Weiterführende Links zum Thema:
Intersexuelle Menschen e.V.
http://www.intersexuelle-menschen.net
XY-Frauen – Selbsthilfegruppe für intersexuelle Menschen
http://www.xy-frauen.de
XY-Frau
http://de.wikipedia.org/wiki/XY-Frau
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