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Denkanstoß

Behindert oder nicht: Alles eine Frage der Perspektive

Behinderung - Rollstuhlfahrer vor einer TreppeZu Anfang gleich mal eine etwas provokante Frage: Würden Sie sich selbst als behindert bezeichnen? Sofern Sie all Ihre Sinne und all Ihre körperlichen und geistigen Kräfte so einigermaßen beisammen haben, werden Sie diese Frage wahrscheinlich mit einem klaren „Nein“ beantworten. Doch diese Antwort kann grundsätzlich als nicht zutreffend eingeordnet werden. Denn jedem, wirklich jedem Menschen, egal wie gesund, fit und leistungsfähig er sich auch fühlen mag, sind mehr oder weniger natürliche Begrenzungen gesetzt, die als Behinderungen einzustufen sind. Es sei denn, man würde sein persönliches Verständnis von „Behinderung“ einmal gründlich (und durchaus auch mit einem Augenzwinkern) überdenken. Dazu möchten die nachfolgenden Zeilen freundlich einladen – eine Lektüre übrigens, die sich, das sei versichert, für jeden denkenden Menschen auf jeden Fall lohnen wird.

Der Mensch in der Wahrnehmung der Tiere

Stellen wir uns einmal einen kraftstrotzenden und kerngesunden jungen Mann in der Blüte seiner Jahre und auf dem Höhepunkt seines aktiven Lebensweges vor. Was gäbe es wohl an so einem perfekten „Mannsbild“ auszusetzen? „Seine Geruchswahrnehmung ist armselig und hoffnungslos verkümmert“, würde jeder Hund sofort sagen. „Er kann mit seinem verkrüppelten Näschen noch nicht mal Wasser erriechen“, so pflichtet jede Katze sofort bei. „Und wie quälend langsam der sich bewegt“, hämen die Stubenfliege und der Gepard in ungewohnter Übereinstimmung. „Außerdem sind seine Augen extrem schlecht, der Kerl ist ja fast blind“, spottet der Adler. „Trotzdem hat er kein eigenes Sonar“, wundert sich die Fledermaus. „Er kann noch nicht mal die elektrischen Felder in seiner Umgebung wahrnehmen“, wundert sich der Zitteraal. „Und schaut Euch mal dieses merkwürdige Gebiss an – eine einzige anfällige Fehlkonstruktion. Der kann ja weder rohes Fleisch noch Körner richtig kauen“, rufen alle im Chor.

Mit der Aufzählung dessen, was unser Prachtexemplar von einem Mann aus der Sicht der Tierwelt so alles für Behinderungen hat, könnten wir hier noch lange fortfahren. Doch die Kernaussage dürfte auch jetzt schon hinlänglich klar geworden sein:

Jede Behinderung definiert sich ausschließlich über die übliche Umwelt des Lebewesens

Unser fiktiver Adonis ist in unseren Augen nur deshalb nicht behindert, weil er all das, was die Tiere an ihm bemängeln, in seinem normalen Lebensvollzug nicht für seinen Alltagserfolg braucht. Würden wir ihn von jetzt auf gleich in ein völlig anderes und fremdes Habitat versetzen, zum Beispiel in die Antarktis, in den Urwald oder in die Wüste, dann wären seine Überlebenschancen wenig größer als Null. Und warum? Weil er in diesem neuen und ihm ungewohnten Lebensraum durch die komplette Abwesenheit spezifischer Fähigkeiten und Fertigkeiten extrem stark behindert wäre. Oder, wie man zutreffender sagen sollte: Außergewöhnlich begrenzt. Genau so begrenzt, wie ein blinder Mensch in der Welt der Lichtreklame. Oder ein Rollifahrer in der Welt der Stufen und Treppen. Oder ein verlangsamter Mensch in der modernen hektischen Gesellschaft. Aus diesen wenigen Beispielen lässt sich folgerichtig auch ein Umkehrschluss ableiten:

Lebt ein Mensch in einer Welt, in der er das, was ihm „fehlt“, auch nicht braucht, dann ist er auch nicht mehr behindert

Behindert ist man nicht, behindert wird man. Das erfahren tagtäglich all jene Menschen, die mit ihren außergewöhnlichen Begrenzungen ebenso außergewöhnliche Ansprüche an ihren Lebensraum stellen müssen. Dabei sind durchaus auch andere Menschen für eine „behindertengerechte“ Ausstattung des Lebens dankbar. Viele Treppenstufen sind absolut überflüssig, abgesenkte Bordsteine freuen auch den Radfahrer, und extra große Bildschirmdarstellungen oder eine Software, die Texte aus dem Internet vorliest, machen jedem Brillenträger Laune. Warum also kompliziert, wenn es auch einfach geht?

Fazit

Eine Gesellschaft, die ihren Lebensraum so unkompliziert und so leicht bewohnbar gestaltet, dass sich „Behinderungen“ in hellen Scharen in Wohlgefallen auflösen, tut sich selbst einen enormen Gefallen. Auch wenn viele kritische Tiere trotzdem immer noch die Nase über das „Misserfolgsmodell Mensch“ rümpfen würden.

Webtipp:
Das Pädagogisch-Theologische Institut der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR): Sprache behindert
http://www.ekir.de/pti/arbeitsbereiche/sprache-behindert-397.php

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