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Bildungspolitik:

Europa und seine Analphabeten

Jeder fünfte Europäer hat Lese- und Rechtschreibschwächen. Neue Aktion „Alphabetisierung und Grundbildung“ soll Abhilfe schaffen.

Analphabet - der Tätowierer hat sich verschrieben, weil er nicht schreiben kann.

Analphabetismus – der Tätowierer ist Analphabet. Bild: © Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.

Europa, der alte Kontinent, hat schwere Bildungsdefizite. Das hat  eine Studie im Auftrag der EU-Kommission ans Licht gebracht. Jeder fünfte Europäer hat Lese- und Rechtsschreibeschwächen, zählt also nach gängiger Definition zum Kreis der „funktionalen Analphabeten“. Und in Deutschland sind es 14,5 Prozent der 14- bis 64jährigen. In nackten Zahlen rund 7,5 Millionen Menschen. Dem wollen die Politiker im Europäischen Parlament wie im Bundestag nun schleunigst entgegenwirken. Mit einer Aktion unter dem Titel „Alphabetisierung und Grundbildung“, der sich alle 27 EU-Staaten verpflichtet haben, soll spätestens binnen zehn Jahren, wenn nicht schon bis zum Jahr 2020, in Europa die Zahl dieser „Bildungsschwachen“ von jetzt 20 auf dann 15 Prozent gesenkt werden.

Aus der Gesellschaft ausgegrenzt

Das hat ganz handfeste Gründe. Denn diese Menschengruppe ist weithin ausgegrenzt aus der Gesellschaft. Mit bedeutenden individuellen, aber auch wirtschaftlichen Folgen. So hat die EU-Studie aufgezeigt, würde der Staat die „Grundkompetenz“ von Schülern in diesen Bereichen, also im Lesen, Schreiben, im Rechnen, besser fördern, könnte das Bruttoinlandsprodukt Europas um Billionen Euro steigen. Es ist ja klar, in dieser digitalisierten Welt stehen jene auf verlorenem Posten,  die schon – das wären die einfachen Dinge – Texte auf Verpackungen nicht lesen können, die die Sprache auf Behördenbriefen nicht verstehen und Formulare nicht ohne fremde Hilfe auszufüllen in der Lage sind. Viele der Betroffenen können zwar einzelne Sätze lesen und schreiben, aber ihnen erschließen sich beispielsweise die Zusammenhänge längerer Texte nicht. Sie sind vom Arbeitsmarkt weithin ausgegrenzt. Es ist unter dem Strich also auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, die Zahl der Analphabeten deutlich zu verringern.

Die Angst, für dumm gehalten zu werden

Dem Bundestag liegen dem entsprechend jetzt Initiativen vor mit dem Ziel, durchzusetzen, dass in den kommenden zehn Jahren ein  Verbund von Bund, den Bundesländern, den Städten und Gemeinden gemeinsam dem Analphabetismus entgegensteuert. Auch die Arbeitsagenturen, die Träger sozialer Einrichtungen, zum Beispiel Kindergärten und last but not least die Wirtschaft sollen mit im Boot sein. Kernpunkt der Überlegungen ist der Aufbau eines Netzwerkes beispielsweise aus Schulen und Volkshochschulen, das sich langfristig dem Ziel verpflichtet, dass alle Menschen Lesen und Schreiben lernen können. Dafür gibt es bundesweit einen ersten Ansatz mit 30.000 Ausbildungsplätzen. Es sollten aber, sagt beispielsweise die SPD-Bundestagsfraktion, kurzfristig 100.000 sein. Dabei müsse der psychologische Aspekt mit in Betracht gezogen werden:  Die Betroffenen sollen den Mut gewinnen, sich helfen zu lassen; wer lesen und schreiben kann, solle sie dabei nach Kräften unterstützen. Denn es ist bekannt, dass es den Betroffenen oft unangenehm ist, sich helfen zu lassen; sie haben Angst davor, für dumm gehalten zu werden. Sie fühlen sich ausgeschlossen von der Gesellschaft.

Erste Anstöße gibt es bereits

Es gibt bereits Hilfsangebote, auf die andere Initiativen aufbauen können. Zum Beispiel das „Hamburger Sprachförderkonzept“, das Projekt „Lesepaten“ des Bürgernetzwerkes Bildung in Berlin oder die Initiative „Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark“ vom Institut für Qualitätsentwicklung in Schleswig-Holstein. Es sind Anfänge, Anstöße, aber bislang bei weitem nicht ausreichend.

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Über Klaus J. Schwehn

Nach 25 Jahren spannender Tätigkeit als Parlamentskorrespondent in Bonn (Badische Zeitung, Die Welt, Berliner Tagesspiegel) lebe ich heute in Oberitalien. Meine Arbeitsschwerpunkte sind Politik und Gesellschaft in Italien und Deutschland; aber auch Fragen der Europäischen Union.